Deutschland braucht eine schwere Krise

BANTLEON | 05.12.2023 10:41 Uhr
Dr. Harald Preißler, Kapitalmarktstratege, BANTLEON / © e-fundresearch.com / BANTLEON
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»Denk ich an Deutschland in der Nacht, bin ich um den Schlaf gebracht.« So lässt Heinrich Heine seine berühmten Nachtgedanken aus dem Jahr 1844 beginnen. Anders als es der allgemeine Sprachgebrauch vermuten lässt, lag der Schlaflosigkeit des Romantikers keine politische Analyse der Situation in Deutschland zugrunde, sie war vielmehr Ausdruck einer herzzerreißenden Sehnsucht des ins französische Exil geflüchteten Dichters nach seiner Mutter. Nur an einer Stelle streift Heine die allgemeine Lage in seinem Heimatland: »Deutschland ist von ewigem Bestand, es ist ein kerngesundes Land!«

Wie sehr haben sich die Zeiten doch geändert – Deutschland befindet sich in einem bedauernswerten Niedergang. Nirgendwo lässt sich dieser Befund besser ablesen als an der Entwicklung der Industrie, dem deutschen Vorzeigesektor schlechthin. Entgegen dem Trend im Rest der Welt befindet sich die Industrieproduktion seit mittlerweile fünf Jahren im Sinkflug. Dass sich die Kluft zur Konkurrenz ausgerechnet seit 2018 ausweitet, könnte dem EU-Beschluss über den Ausstieg aus der Verbrenner-Technologie geschuldet sein. Damit wurden der deutschen Automobilindustrie die über Jahrzehnte hinweg erarbeiteten Wettbewerbsvorteile im Handstreich entzogen.

Es kommen allerdings noch eine ganze Reihe weiterer Faktoren hinzu: die träge und ausufernde Bürokratie, hohe Abgaben, die demografische Alterung, Arbeitskräftemangel, hohe Energiepreise und vieles mehr. In Umfragen zur internationalen Standortqualität landet Deutschland regelmäßig abgeschlagen auf hinteren Rängen. Der einstmalige Export- und Fußballweltmeister in Serie ist nur noch ein Schatten seiner selbst. 

Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Lage beziffert in seinem jüngsten Gutachten das Wachstumspotenzial der deutschen Wirtschaft auf jämmerliche 0,4% p.a. Das ist nur noch ein Sechstel des Niveaus der 1970er Jahre. Die Gründe für dieses Siechtum sind die ungünstige demografische Entwicklung, gepaart mit der weltweit geringsten Zahl an Arbeitsstunden (sogar in Frankreich wird mehr gearbeitet), sowie der stagnierende Produktivitätsfortschritt. Vom fleißigen, erfindungsreichen deutschen Ingenieur fehlt in der Statistik jede Spur.

Als Folge davon reicht in Zukunft jede noch so kleine konjunkturelle Schwäche in China, den USA oder aber den großen Mitgliedsstaaten der Eurozone aus, um Deutschland in eine Rezession zu treiben. Für eine wirkungsvolle Absorption externer Schocks fehlt schlicht der Speck auf den Rippen.

Damit nicht genug: Die demografische Alterung dämpft nicht nur das Produktionspotenzial, sie erhöht auch den Finanzierungsbedarf der gesetzlichen Rentenversicherung. Wenn die 2018 beschlossene doppelte Haltelinie (Beitragssatz bei 20% gedeckelt, Sicherungsniveau vor Steuern nicht unter 48%) fortbestehen soll, müssen weiter steigende Zuschüsse des Bundes die ausufernde Finanzierungslücke schließen. Innerhalb von zehn Jahren hat sich der Zuschuss bereits von knapp 60 Mrd. Euro jährlich auf über 100 Mrd. Euro erhöht und wird in den nächsten Jahren exponentiell weiter steigen. Noch genießt Deutschland als Schuldner an den internationalen Finanzmärkten einen untadeligen Ruf – das könnte sich aber in den nächsten Jahren schnell ändern. Zumal die Zinswende erst mit Verzögerung die jährliche Zinslast in die Höhe treibt und damit eine Schuldenspirale in Gang setzen könnte.

Deutschland befindet sich in keiner konjunkturellen, sondern einer strukturellen Wachstumskrise, die sich nur über eine nachhaltige Beschleunigung der Produktivitätszuwächse überwinden lässt. Für die hierfür notwendigen staatlichen Investitionen in die Infrastruktur, die Digitalisierung, die Verbesserung der Finanzausstattung von Forschungseinrichtungen oder die Bereitstellung von Wagniskaptal für Firmengründungen fehlt indes das Geld. Dies gilt erst recht, seit das Bundesverfassungsgericht dem zuletzt so beliebten Trick 17 der Haushälter, Sondervermögen zweckentfremdet in spätere Haushaltsjahre zu verschieben, den Stecker gezogen hat. Es hat sich »ausgewummst«! Dass die dringend erforderlichen Investitionen in die Stärkung des Wachstumspotenzials nur noch über die Ausrufung von Notlagen möglich sind, ist ohnehin ein Armutszeugnis.

Deutschland geht unruhigen Zeiten entgegen. An klugen Vorschlägen, wie das Ruder herumgerissen werden könnte, besteht kein Mangel. Allein der Sachverständigenrat listet mehr als 40 Punkte auf. Allerdings ist zu befürchten, dass der politische Mut für eine wachstumsfördernde Agenda 2030 erst auf den Trümmern der nächsten schweren Krise aufgebracht wird. Die gute Nachricht: Auf diese Krise werden wir wohl nicht allzu lange warten müssen.

Von Dr. Harald Preißler, Kapitalmarktstratege bei BANTLEON

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